Der Verfasser

Ich wäre gern ein wichtiges Werk der literarischen Moderne. Eines, das einem in hundert Jahren zu diesem Thema sofort einfällt. Dafür ist es aber längst zu spät. Das liegt an meinem Verfasser. Er ist zu jung, wir wären wohl selbst für die Postmoderne schon zu spät dran. Außerdem ist er zu alt, zu eingefahren, zu wenig verspielt und zu risikoscheu. Ich wäre gern experimentell und ohne einen durchgehende Handlungsstrang, dafür ausgestattet mit mehreren wiederkehrenden, multidimensional verknüpften Motiven. Polyphon nennt es mein Autor oder faselt gar etwas von Kontrapunkt. Ich finde das nicht gerade treffend, wir schreiben hier kein Streichquartett.

Der Verfasser kam auf die Idee, etwas über einen Autor zu schreiben. Auf den Gedanken sind allerdings schon Legionen von Schreibern vor ihm gekommen. Ein selbstreferentieller Text, der seine eigene Entstehung dokumentiert, schwebte ihm vor. Vor fünfzig, sechzig Jahren oder so wäre das vielleicht originell gewesen, aber heute? Trotzdem fing er an, daran zu arbeiten, mit einer Eingangsszene, in der sein Alter Ego am Schreibtisch saß und mit sich und seinem Text haderte, und er beschrieb weiter, wie er angeblich aus seinem Leben Literatur destillierte.

Eigentlich wollte der Herr Schriftsteller einen Roman schreiben. Das geht nicht. Der Roman ist tot. Ich nicht. Der Romancier ist folgerichtig auch tot. Meinen Verfasser kann ich noch am Leben erhalten. Wenn ich also kein Roman bin, und dafür bin ich viel zu kurz, was bin ich dann? Prosa ohne nähere Gattungsbezeichnung. Romane sind in der Regel auch viel zu lang, enthalten zu viel Füllmaterial, zu viele Details, zu viel Beliebiges. Im schlimmsten Fall sind sie nur geschwätzig.

Den Verfasser habe ich gefesselt, damit er seine Zeit nicht mit anderen Menschen vertrödelt. Viele Geschichtenerzähler meinen ja, sie müssten ständig etwas erleben, um dann auch mal etwas erzählen zu können. Was für ein Unsinn. Zu viele Menschen – und das sind viel weniger als man gemeinhin glaubt – halten einen Autor davon ab, sich seinen Einfällen hinzugeben.

Deswegen habe ich ihn von seinen Freunden isoliert und ihm ausgetrieben, in seiner Freizeit – er geht einem Brotberuf nach, das ist schon schlimm genug, andererseits gut, weil er nicht für Geld schreiben und auf die zahlende Kundschaft schielen muss, – also, ich habe ihn nach Kräften daran gehindert, ins Kino, in Konzerte oder gar in Kneipen zu gehen. Mannschaftssport ist auch verboten, sowohl zum Ansehen wie zum Mitspielen. Fußball ist am schlimmsten. Die Spieler rackern sich ab, ohne den Ball ins Tor zu bekommen, am Ende hat ein einziger genialer Zug, ein blöder Fehler oder ein dummer Zufall oder gar eine falsche Schiedsrichterentscheidung ein ganzes Spiel entschieden, und das ist dann alles, was von neunzig Minuten Spielzeit bleibt. Fußball ist einfach zu sehr wie das richtige Leben. 

Gut hingegen sind Sportarten wie Joggen, Radfahren oder Schwimmen, bei denen man allein seinen Gedanken und Eingebungen nachhängen kann, und unter Erschöpfung und Endorphinausschüttung sind diese manchmal gar nicht schlecht.

Es kam allerdings vor, dass mein Verfasser abends allein am Schreibtisch saß und anstatt in sich zu gehen fing er an, zu den Themen, die er sich vorgenommen hatte, zu recherchieren. Ganz schlecht. So ist das, wenn man am Computer schreibt und das Internet nur einen Tastendruck entfernt ist. Wissen und Details zu sammeln behindert aber nicht nur die Phantasie, die Verfügbarkeit aller möglichen Informationen hat auch den unangenehmen Effekt, dass jeder etwaige Leser sie praktisch immer und überall überprüfen kann, womöglich abweichendes oder interessanteres findet. Ein korrekt historischer Hintergrund, stimmiges Lokalkolorit und genau recherchierte soziokulturelle und naturwissenschaftliche Hintergründe hindern nur einen guten Text daran, sich zu entfalten. Entweder kennt der Leser den ganzen Quatsch schon, oder er wäre ohne den ganzen Wissensballast auch nicht schlechter dran. Überprüfbares zu schreiben ist banal, nicht überprüfbares, ausgedachtes, phantastisches ist schon besser. Falsches richtig zu schreiben ist interessant. Aber nur Falsches und Erlogenes, das ist offensichtlich auch blöd. Richtiges, Falsches, frei assoziiertes stimmig zu einem Ganzen zu verbinden wäre große Kunst. Über etwas gut zu schreiben, von dem man eigentlich wenig weiß, ist eine echte Herausforderung.

Als Text ist es schwierig, den Autor so hinzubekommen. Ich gab ihm das eine oder andere Ende zu fassen, ein Bild, eine Szene, eine Figur, und dann musste er sich darauf einlassen, wohin ihn das führte. Idealerweise gerieten wir in einem Zustand, indem die ganze Arbeit wie von allein dahinfloss und alles rundherum nicht mehr wahrgenommen wurde. Hinterher wusste man noch, dass man beim Schreiben dabei gewesen war, aber nicht mehr, wie und warum das alles im Detail so zu Stande gekommen war. 

Mein Verfasser hatte eine Freundin oder wie man das nennt, die sich mit mir nicht verstand. Mit ihm kam sie eigentlich auch nicht so gut aus. Wenn sie sich ein bisschen im Ruhm meiner Vorgängertexte sonnen konnte, war ihr das sehr angenehm, aber dass Schreiben ein mühsame, zeitraubende, verzehrende Arbeit ist, wollte sie nicht verstehen. Noch weniger, dass Schreiben Rausch und Sucht sein kann. Kurz, sie wollte meinen Verfasser nicht in Ruhe schreiben lassen und mir nicht seine Abende und Nächte überlassen. Stattdessen lagen sie auf dem Sofa vor dem Fernseher, gingen in Restaurants, fuhren in den Urlaub oder hatten Sex. Im Fernsehen liefen oft sinnlose Kochsendungen oder öde Spielfilme mit unterirdisch schlechten Drehbüchern. Den Sex hat sie schamlos benutzt, um ihn mir abspenstig zu machen. Nur war ich allerdings immer noch in seinem Kopf, und das habe ich ausgenutzt und ihn mittendrin an die weniger gelungenen Stellen vom Anfang erinnert, da, wo er am Schreibtisch sitzt und über sein Leben schreibt. Solche Bilder kriegte er dann nicht leicht aus dem Kopf, und es hat ihnen den ganzen Spaß verdorben. Es gab einen großen Krach, und sie waren eine Zeit lang nicht mehr zusammen. 

Der Herr Schriftsteller hatte wieder genug Nachtfreizeit, aber er pflegte jetzt eine Depression, und es fiel ihm nichts mehr ein. Auch nicht, wenn er seinen Rotwein mit mir allein trank. Falls ihm in angerauschtem Zustand etwas einfiel, war es ein ziemlicher Mist. Zeit, mal etwas neues zu versuchen, dachte ich, und riet ihm, die Droge zu wechseln und mal etwas Bewusstseinserweiterndes auszuprobieren. Ich setzte einfach voraus, dass es da genug zu erweitern gäbe.

Das Problem war jetzt, dass geeignete Substanzen illegal waren. Der Schriftversteller telefonierte einem Bekannten hinterher, der früher mal Gras geraucht hatte, um ihn umständlich auf eben dieses Thema zu bringen und schließlich verdruckst nach einer Quelle zu fragen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht genau, wie es weiter ging. Er war an mehreren Abenden länger verschwunden, und kehrte schließlich mit einem Tütchen grüner Krümel zurück. Ich habe keine Ahnung, ob der Bekannte doch noch einen Kontakt hatte, oder der Autor sein Glück im Bahnhofsviertel versuchte, bis er schließlich fündig wurde. Ich weiß auch nicht, was der ganze Spaß gekostet hat. 

Jedenfalls fing er mit Hilfe von Cannabis und Weißwein tatsächlich an zu schreiben. Einiges davon war sogar ziemlich gut – falls meine Erinnerung mich nicht täuscht. Er schrieb damals handschriftlich, und einiges war später nüchtern beim besten Willen nicht mehr zu entziffern oder zu rekonstruieren.

Anstatt sich jetzt ernsthaft mit sich selbst auseinander zusetzen, gegen seine Dämonen anzuschreiben (also gegen mich) und Literatur zu produzieren, gab er sich wieder seiner düsteren Stimmungen hin. Erst lief er abends und nachts stundenlang durch die Straßen und tat sich selbst leid. An den darauf folgenden Abenden blieb er zu Hause, kochte sich nach Feierabend eine Kanne Johanniskrauttee, legte sich ins Bett und schlief friedlich zwölf Stunden am Stück, um am nächsten Tag entspannt zur Arbeit zu gehen. Ich konnte sehen, wo ich blieb. Schließlich überredete er seine Sexualpartnerin, wieder zu ihm zurückzukehren, und das Hin und Her zwischen ihr und mir ging wieder los. Das war allerdings besser, als wenn es mit mir als Kunstwerk gar nicht weiter gegangen wäre.

Der Verfasser fing auch wieder an, zweimal pro Woche zu joggen. Er ging im langsam wieder besser, und so konnte er an zwei, drei Abenden pro Woche wieder schreiben. Er suchte seine Fragmente zusammen, korrigierte, stellte die Reihenfolge um, ergänzte und formulierte neu. Er flocht sogar einige vage oder eher gewagte kunsttheoretische Thesen ein. In dieser Zeit ließ ich mich etwas gehen und wuchs unnötig in die Breite. Dann folgten noch mehrere Durchgänge von Korrekturlesen und marginalen Veränderungen und Ergänzung, bis es einfach nicht mehr weiter ging. Am Ende bin ich eine ziemlich banale und triste Geschichte mit ein bisschen Sex und Drogen darin geworden, aber leider nichts bahnbrechend Neues. Jedenfalls bin ich jetzt abgenabelt. Mein Verfasser und ich beginnen, miteinander zu fremdeln. Ich werde allein in der Welt zurecht kommen.